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  • AutorenbildAnna Henschel

Panorama, Woche 9, Le Rozier, Occitanie, Frankreich



Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Schon allen deshalb, weil es hier im Süden Frankreichs nichts anderes zu berichten gibt als im sonstigen Europa, auch hier knallt die Sonne ü-30.

Hier gibt es ganz andere Dinge zu bejammern, aber auch zu bestaunen. Es sind vor allem Menschen und G-Schichten, weniger chronologische Ereignisse zu berichten. Dieser Eintrag ist daher den “Protagonisten der Woche” gewidmet.


Der Pinienprozessionsspinner


Ihr erinnert euch sicher noch an die Klage über die Saugwürmer, die sich an unserem Lieblingssee in Eygliers unter die Haut gegraben und einen entsetzlichen Juckreiz ausgelöst haben. Hier in der Tarnschlucht kommt die Gefahr nicht aus dem Wasser, sondern von oben. Seit einigen Jahren beklagen Eiheimische wie Touristen eine Plage von Pinienprozessionsspinnern, deren Gespinstnester sich in einem regelrechten Netz auf den unzähligen Nadelbäumen in der Umgebung erstrecken.


Gespinstnester der Pinienprozessionsspinner

Kurzer Exkurs zur Einführung: Die Weibchen legen ihre Eier in den Wipfeln der Kiefern und Pinien ab und spinnen ein zuckerwatte-artiges Nest. Die Gelege werden um die Nadeln der Bäume herum kolbenförmig angelegt und mit schuppig abgedeckt. Dort entwickeln sich die Larven zu Raupen, die wiederum in den äußeren Zweigen zuckerwatte-artige Gespinste anlegen. Soweit ist alles noch in Ordnung. Danach kommt das Grauen, denn zur Verpuppung wandern die Raupen in Prozessionen hintereinander gekettet den Baum herunter in den Boden, wo sie dann zum Schmetterling heranreifen. Bei der Prozession verlieren sie ihre nesselnden Brennhaare, die sich dann im direkten Umfeld verteilen und darüber hinaus vom Wind gestreut werden. Kommt man damit in Berührung, kann es zu einer Raupendermatitis kommen, die auch wie beim Saugwurm juckende rote Quaddeln hinterlassen, die sich zäh halten und Mensch wie Tier gefährlich werden können.


Chrissies Quaddeln, ausgelöst durch die nesselnden Brennhaare des Pinienprozessionsspinners

Die Prozessionen finden wie bei den Katholiken im Frühling statt, die Nester halten sich jedoch bis zu 10 Jahre auf den Bäumen, inklusive Haare, daher ist die Gefahr besonders in der trockenen Periode noch immer gegeben.

Franziska, Besitzerin und gute Seele des Campings, erzählt, dass ein Freund von ihr 1/3 seiner Pferdepopulation so verloren hat. Die Tiere sind beim Fressen mit den Haaren in Kontakt gekommen, die Lippen sind angeschwollen, in der Folge haben sie das Futtern verweigert und sind schließlich gestorben. Auch der Camping hat bereits Touristen eingebüßt, aber nicht etwa, weil sie das Futter verweigert hätten, sondern z.B. als unwissende und hysterische Besucher fälschlicherweise Bettwanzen und damit direkt die Campingbesitzerin für den Juckreiz verantwortlich gemacht hatten.

Wir bemühen uns derzeit die Epidemie einzudämmen, indem wir versuchen den Ameisen beizubringen, nicht die Kadaver der erwachsenen Tiere, sondern die Larven anzugreifen. Diese dürften weitaus besser zu transportieren sein.


David gegen Goliath, oder wie eine Ameise das 30-Fache ihres Gewichts zieht...

Andere Camping-Besucher kommen erst gar nicht, seit sich die Schädlinge drastisch ausgebreitet haben. Wir sind das Jucken ja schon gewohnt und trotzen den Spinnern und ihren Haaren mit Ausflügen, Wanderungen, Sightseeing, Kletter-Einheiten und Kanu-Abenteuern.



So sehr manche Fauna die Touristen abschreckt, so gibt es auch Tierarten, die die Menschen anziehen, wie die Geier.


Die Geier


Geier kreisen über der Landschaft; ein Verhalten bei Aussicht auf Beute. Einer fängt an und lockt damit alle anderen an, die sich dann in Scharen über das gefundene Fressen hermachen.

Die Gegend in den Tarnschluchten ist bekannt für ein weltweit einzigartiges Biotop, in dem der Mensch es geschafft hat, die meisten bekannten Geierarten wieder anzusiedeln, zu deren Ausrottung er bis in die 40er Jahre hinein erfolgreich beigetragen hatte - sei es durch die Industrialisierung und den Sound der Viehzucht, sei es durch gezielte Jagd auf Trophäen oder durch Vergiftung von Wild, das am Ende der Nahrungskette in den Vögeln gelandet ist. Inzwischen gibt es hier über Tausende von Gänse-, Mönchs-, Schmutz-, und Bartgeiern, die in genannter Reihenfolge Tierkadaver restlos verputzen, die aus den Herden einheimischer Landwirte stammen und damit maßgeblich zum ökologischen Gleichgewicht beitragen. Da wir bislang keinen Erfolg bei den Ameisen hatten, hoffen wir nun, dass sich die Geier für die Prozessionsfalter erwärmen können, ist aber schwierig mit dem Empfang, weil die Riesenvögel mit einer Flügelspannweite von bis zu 3 Metern im Funkloch auf 3000 m Höhe dahinschweben und ansonsten ihr sehr entspanntes Leben auf den unzähligen Felsen genießen.

Ihr seht, wir versuchen hier alle auf unsere Kosten zu kommen. Wir tun das am liebsten mit dem Abendklettern, was trotz Hitze einen Riesenspaß macht, und mit den bezaubernden Menschen, mit denen wir es täglich zu tun haben, allen voran Franziska.


Franziska


Während der Pinienprozessionsspinner (im Folgenden nur noch “Pipros” genannt, denn er nimmt nicht nur als Geschöpf, sondern auch als Wort schon zu viel Raum ein) Gespinstnester spinnt und damit einen Kreislauf der Verwüstung in Gang setzt, webt Franziska charmant soziale Netzwerke als Gegenkonzept. Die bemerkenswerte Ausdauer, die sie offenbar trotz 24-h-Einsatzbereitschaft auf den Beinen hält, gibt sie per “Energiemassage” an Interessierte weiter, die sich über diese Dienstleistung erhoffen, zu ergründen, wie die Frau das alles schafft: Bepflanzung des Campings, Brutpflege von 2 zuckersüßen Welpen und Versorgung der Welpenmama (hierzu gibt es aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Bilder, die Welpen sind noch nicht mündig für eine Einwilligung), Bewirtung ihres Mannes Andreas, der erst essen MUSS, bevor er sich Neuankömmlingen widmen kann, Bewirtung ihrer Snack-Bar und Bewältigung der gemeinen August-Camper, die wüst sind wie die Raupen bei der Prozession und Jahr für Jahr ein Feld der seelischen und äußeren Verwüstung hinterlassen. Immer nur im August. Gruselig ist das. Da hilft es auch nicht, dass Andreas versucht, die Widrigkeiten wie Kindergeschrei oder schlechte Laune täglich mit drei aufeinanderfolgenden Tönen auf der Trompete wegzublasen. Wir finden, Franziska braucht Urlaub. Trotz Überlastung verkriecht sie sich aber nicht in einem Gespinstnest, sondern streckt ihre Feinfühler aus und hilft, wo sie nur kann. Und wer keine Energiemassage mag, bekommt gern auch einen Rat oder eine Empfehlung. Fürs Tagesmenü, z.B. Oder, wo man einen Zahnarzt findet, falls sich beim Tagesmenü die die Zahnfüllung lockert. Und weil bei Henschels die einzige, die Französisch wirklich kann, in Rauenthal schwitzt, übernimmt Franziska sogar das Sekretariat und vereinbart für Chrissie einen Termin, gerade noch rechtzeitig vor dem großen Sommerloch im August, in dem Frankreich für ein paar Wochen versinkt. Da geht dann nichts mehr, da kann man froh sein, wenn der Kopf noch dranbleibt, weil dann wird’s schwierig mit Hilfe holen. Ganz beiläufig erklärt uns Franziska, dass die Zahnfee bei den französischen Patienten einen schlechten Ruf hat. Zu rabiat sei sie, würde hantieren wie ein Metzger, ohne Spritze und Feingefühl. Gut zu wissen, dann kann man nämlich die Empfindsamkeit abstellen und sich ein Humor-Polster zulegen, zumindest, solange der Zahn nicht raus muss. Die Franzosen seien da halt ein bisschen Sissi, sagt Franziska. Alles eine Frage der Perspektive. Und der Herkunft, sozial wie national. Stimmt. Schweizerin Franziska ist nämlich so eigen wie liebenswert und herzensgut - eine Kombination, die ich an Schweizern schon einige Male beobachtet habe. Die charakteristischen Züge sind ausgeprägt uns werden selbst durch das elende Hochwasser nicht unterspült, das Franziska und Andreas kurz nach Fertigstellung des Campings fast die Existenz gekostet hätte.



Überschwemmung auf dem Camping "Les Peupliers", November 2011. Die Rote Linie markiert das Wasserniveau.


Immer wieder schwellen die Flüsse der Schluchten an, immer wieder muss Krempel im Herbst weggeschafft und im Frühjahr wieder hingefahren werden, reicht ja auch schon, dass die Elektrizität immer wieder neu eingerichtet werden muss. Hier wurde sich jeder solide deutsche Handwerker an den Kopf fassen, aber den will ich sehen, der ein so geschickt konstruiertes Provisorium hinbekommt wie Franziska und Andreas. Und das mit südfranzösischen Mitteln! Ein solches Provisorium hat Chrissie nun übrigens in seinem Backenzahn. Für 45 Euro. Bis Ende des Jahres dürfte es halten.

Und so hat jeder seine kleineren und größeren Projekte.


“La Nonne” ("Die Nonne")


Bis Ende seines Lebens wird wohl das Projekt des Haus-und Hofreinigers dauern, aber nicht etwa, weil der Zyklus von Kochen und Abspülen, Essen und Verdauen ein Leben lang anhält. Oder weil das "Analphabetenklo" regelmäßig verstopft, weil die Analphabeten es nicht schaffen, den ausführlichen wie unmissverständlichen Hinweis in Textform zu befolgen, das Klo zu meiden, das für diese Zielgruppe ungeeignet ist. Ohnehin ist auch dafür nicht die Reinigungskraft, sondern Franziska und Andreas verantwortlich. Fast täglich kommen wir unserer Meldepflicht nach und geben Bescheid, dass das "Analphabetenklo" verstopft ist, auch wenn so der Eindruck entsteht, dass wir nicht lesen können. Dabei sind wir wohl die einzigen, die zu Ende gelesen haben und wissen, dass selbst die kleinsten Anzeichen einer drohenden Verstopfung unverzüglich zu melden sind.


Die Signaltür zum "Analphabetenklo"


Selbst der bunteste Dreckhaufen verblasst aber angesichts der schillernden Gestalt des Haus-und Hofreinigers. Seine Erscheinung passt in keine Schublade, genauso wenig wie sein Lebensprojekt. “La Nonne” wie er liebevoll genannt wird, hat vor ein paar Jahren für weniger als 70.000 Euronen eine Klosterruine oberhalb vom Campingplatz erstanden. Die Substanz scheint auf den ersten Blick genau so wertlos zu sein wie das jährlich vom Hochwasser bedrohte Campinggrundstück, wenn man den Wert von Franziska nicht mit einberechnet. Aber als Lebensprojekt eines über 70-Jährigen ist es unbezahlbar, schon allein des Herzbluts wegen, das er darin investiert hat. “La Nonne” macht alles selbst und wenn nicht, dann mit freundlicher Unterstützung von Wohlgesinnten. Inzwischen vermietet er zwei Zimmer unter, die Koexistenz klappt gut, auch wenn sich die Untermieter verhalten, als hätten sie die Residenz eigenhändig gebaut. Es gibt warmes Wasser, eine Dusche, ein Klo und den vollständig hergerichteten Wohn-Ess-Raum, in dem “La Nonne” Menschen wie dich und mich empfängt und der einen staunen lässt, was sich mit Liebe und Geduld aus dem “Grand Bordell”, das man bis zum Wohnbereich beschreitet, herausholen lässt.

Hier wäscht eine Hand die andere, mit den Mitteln, die gerade zur Verfügung stehen. Wir sind hier aber nicht in einem Entwicklungsland, die Leute hier leben einfach gerne provisorisch, vor allem aber LEBEN sie. Dafür lässt man die Arbeit auch mal liegen, wenn sie nicht unbedingt nötig ist, und geht bei Franziska und Andreas ein Bier oder einen “Apfelsaft” trinken, wie der Whiskey liebevoll von “La Nonne” genannt wird. Oder man lädt interessierte Touristen wie uns zu sich nach Hause ins Kloster ein, schwelgt in Bildern vergangene Jahre, als das Kloster mehr Baustelle als Wohnraum war, und erzählt bei Haute-Cuisine und Vino die Geschichte zum Projekt oder die von Freundschaften, wie der zwischen Katrin und Sven, die uns auf den Camping empfohlen und schließlich mit der Botschaft lieber Grüße zu “La Nonne” geführt haben.


Bei "La Nonne" in der Küche, zum Nachtisch gibt es noch mehr Wein, Käse und Geschichten


Von all seinen Geschichten ist die interessanteste zu intim für diesen Bericht, denn sie dringt immer mehr in die Person ein, die sich uns Tag für Tag zunehmend offenbart. Sie ist nicht weniger provisorisch, gestützt von Pfeilern guter Freunde, einem starken Selbstbewusstsein und der Fähigkeit, sich ganz unaufgeregt und charmant immer wieder neu zu erfinden.

An der Neuerfindung unserer Selbst arbeiten wir täglich, wir erneuern uns etwa beim Bad im Fluss-Pool.



Und wie kommt ihr so zurecht?


Heiß und genauso entspannte Grüße von Anna & Chrissie

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