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  • AutorenbildAnna Henschel

Die Grenzen der Gewohnheit



Gleich drei wesentliche Komponenten brechen uns durch die Isolation aufgrund von Corona weg, die bislang den Alltag der meisten Menschen bestimmt haben: unbeschränkter Konsum, unmittelbare Interaktion und grenzenlose Mobilität. Das neuartige Sozialexperiment stellt uns aber nicht nur vor die Herausforderung, unsere Gewohnheiten anpassen zu müssen, sondern sie auch zu hinterfragen: Ich kann nicht einfach nach Lust und Laune shoppen gehen. Ein Blick in meinen Kleiderschrank verrät mir aber, dass ich auch nicht mehr brauche, ja vielmehr vieles doppelt in leichter Abwandlung: „same same but different“. Ich erinnere mich an die Moralapostel und Verbesserer einer Welt von gestern. Sie mahnten uns zur Devise „weniger ist mehr“: mistet aus und entledigt euch des Überflusses. In der Welt von heute scheint Corona die Influencerin der Stunde zu sein: Die Menschen bleiben daheim und misten aus, was sie nicht brauchen. Sie investieren in eine kleine Balkon-Oase, ein Stück selbstgemachtes Paradies, kurzum: viele nutzen die Ressourcen, die sie gerade haben.

Von unbeschränktem Konsum zur Selbstbeschränkung?

Was soll man auch machen, wenn man sich nicht zum gemeinsamen Grillen, kollektivem Bundesliga-Gegröle oder zum Mami-Kinder-Kreisel treffen kann? Gestern war der unmittelbare Kontakt zu unserem Mitmenschen selbstverständlich und omnipräsent, vielleicht hat er uns auch überfordert und wir waren froh, am Abend unsere Ruhe zu haben. Heute lässt sich die soziale Distanz auch nicht via Telefon oder Skype auflösen. Wir können erkennen, welchen Nährwert der Kontakt zu unseren Mitmenschen hat und was es bedeutet, ihn mit Angehörigen und Freunden vielleicht nur noch mit maximal zwei Sinnen spüren zu können.

Was tun, wenn der Schrank ausgemistet, die Telefonliste abgearbeitet und der Garten fertig sind, Corona aber weiter wütet und keine Anstalten macht, abzuziehen?

Der Radius ist beschnitten, die Welt ist kleiner geworden, aber nicht, weil wir mit dem Flieger in kürzester Zeit in die Tropen gelangen, sondern weil sich nun eine Welt erhebt, die wir durch Konsum, Interaktion und Bewegung vernachlässigt oder gar betäubt haben: die innere. Sie ist uns oft fremder als es je ein Reiseziel sein könnte. Wir haben nicht gelernt, uns in ihr zurechtzufinden, weil der Kompass Konsum, Kontakt und Mobilität gefolgt ist.

Haben wir ihr zuvor kaum Raum gegeben und sie nicht genug erforscht, haben wir jetzt die vielleicht einmalige Gelegenheit, das nachzuholen: indem wir uns der Angst vor uns selbst stellen, unseren Dämonen zuhören und die Liebe zu uns selbst kultivieren: Auch bekannt als Achtsamkeit. Ein bewährtes Konzept aus der alten Welt, für dass es kaum einen besseren Nährboden gibt als die Abwesenheit von unbeschränktem Konsum, unmittelbarer Interaktion und grenzenloser Mobilität.

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