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  • AutorenbildAnna Henschel

Panorama, Woche 6, Ailefroide, Hautes-Alpes, Frankreich


Verlängerung des Tête de la Draye, mit Blick auf den Mont Pelvoux


Reisen ist nicht immer Urlaub im Sinne der Erholung. Vor allem nicht, wenn aufgrund einer sonderbaren Planetenkonstellation und der Verkettung ungünstiger Umstände aus scheinbar freudvollen Tätigkeiten zermürbende Aufgaben werden. Klettern ist eben ein schizophrener Sport, und der Grat zwischen Himmel und Hölle schmaler als am Berg.

Doch noch war alles in Ordnung, als wir in Ailefroide angekommen waren, um uns endlich unserem Projekt zu stellen und das Handling für Mehrseillängen zu üben, das wir als Trockenübung bereits von Jochen und zuletzt Micha erlernt hatten. Noch besser wurde es mit einer überaus angenehmen Überraschung, mit der wir eigentlich erst später gerechnet haben: kurz nach dem Abendessen standen plötzlich Isa und Fabi, unsere Freiburger Freunde vor uns, die sich spontan entschieden hatten, noch länger in Ailefroide zu bleiben und uns Gesellschaft zu leisten, anstatt antizyklisch nach Eygliers zu fahren. Eine Riesenfreude war das, insbesondere, da Freunde auf Reisen immer ein Stück Heimat und Geborgenheit mitbringen und sich als ungeahnte Wohltat herausstellen, auch wenn scheinbar kein Gefühl von Entbehrung besteht.

Im Laufe des Abends also Geschichten vom Fels, mit Dramen in Mehrseillängen (genau richtig für Anfänger wie uns), Austausch von “Kriegsverletzungen”, Schwachstellen und Trainingsplänen, das übliche erheiternde Gesprächsinventar von Kletterern also, das nie langweilig wird, solange man selbst klettert. Eine besonders erwähnenswerte Geschichte jedoch erzählt vom Mut, unter dem die zwei sich die Zeit für den Trip freigeschaufelt haben: Unsere arbeitslosen Freunde haben nämlich ihren kompletten “Jahresurlaub”, den ihnen das Arbeitsamt zugesteht, auf einmal genommen und beschlossen, die ersten von 20 Tagen in Ailefroide auf den Kopf zu hauen. Ich finde das fast schon mutiger als den Job aufzugeben und mit der Kohle für ein paar Monate durchzubrennen, denn hier muss man sich nicht rechtfertigen und wird vor allem nicht kriminalisiert. Nach ihrer Rückkehr nämlich dürfen die beiden Freiburg bis Jahresende nicht verlassen - keine spontanen Familienbesuche, keine Ausflüge, von Mehrtagestouren oder gar Mehrseillängen ganz zu schweigen, sonst drohen Leistungskürzungen. Das sind die Auflagen, und zwar nicht für fluchtgefährdete Mörder, sondern junge Menschen, die jahrelang in die Staats- und Sozialkasse einbezahlt haben und nun das Recht hätten, auch eine zeitlang von ihr zu leben. Die Parallele zum Knast ist wohl hinfällig zu erwähnen. Dennoch sind die beiden bester Laune, denn es liegen noch einige Tage in Freiheit vor ihnen, und wo könnte man diese besser genießen als im Lande der “Fraternité, Égalité und Liberté”?!

“Vive le moment” lautet also nicht nur die Devise eines bekannten Tabakherstellers.


Camping in Ailefroide mit Isa, Fabi und Chrissie


In Ailefroide kann alles, nichts muss, man hat Abwechslung satt, denn Mehrseil, Wandern, Sportklettern und Essen geht in gleicher Qualität und wenn man will auch Hand in Hand ineinander über. Manchmal aber hilft alles nichts, wenn Vollmond Chrissie und meine ungünstige Planetenkonstellation das Motto des Tages bestimmen. Man kann sich aber immer auf die Beständigkeit des Wandels verlassen und schließlich wunderbar beobachten, wie der Tag noch eine gute Wendung nimmt. Dieses Prinzip lernt man übrigens im Anthropologiestudium und beim Wetter-Schauen - also Augen auf.

Das gute Klima ließ aufgrund der schlechten Großwetterlage allerdings an dem Tag noch etwas auf sich warten und stellte sich erst nach den ersten Gehversuchen in einer einfachen Mehrseillänge ein, die mir alles an Geduld und Nerven abverlangt hatte. Im Grunde war es noch nicht einmal eine Mehrseil- sondern Einseillänge, an der wir insgesamt 4 Mal hoch und runter sind, um uns mit dem Bau eines Standplatzes und dem Abseilen vertraut zu machen. Wenn die Stimmung aber ohnehin im Keller ist, braucht man das eigentlich gar nicht erst zu versuchen, denn die Operation erfordert klare Absprachen wie einen klaren Kopf, ein entspanntes Gemüt und Offenheit - also nicht gerade das, was wir zu dem Zeitpunkt aufbringen konnten. Andernfalls verschärft man nämlich die ohnehin ungünstigen Bedingungen und macht alles viel schwerer als es ohnehin schon ist.

Halten wir daher die “Klassiker” fest, die einem an Pleiten, Pech und Pannen beim Mehrseillängenklettern passieren können und vor allem mir an diesem Tag den letzten, wirklich allerletzten Nerv geraubt haben. Über Folgendes dürfte jeder Alpinist herzlich schmunzeln:

  1. Leute reden in 2 Fremdsprachen auf eine ohnehin schon völlig desolate Anna ein und versuchen ihr zu erklären, wie man dieses und jenes “besser” macht (als ob es hier “die richtige” Methode gäbe, ganz abgesehen von den landestypischen Unterscheiden)

  2. Klong…klong, klong, klong….ist klar, liebe Alpinisten, oder? Genau, Reverso ist abgerauscht. Für die Nichtalpinisten: das ist das obligatorische, unentbehrliche Sicherungsgerät, ohne das gar nichts mehr geht, wenn man keine andere Sicherungstechnik der alten Schule beherrscht. Lieber Luki, zum Glück ist das Reverso, das du uns geliehen hast, in einer simulierten und keiner echten Mehrseillänge herabgesegelt, und hat die Holländer am Felsfuß nicht erschlagen. Vielmehr hat mein Missgeschick zum einen den erfahrenen Holländer erheitert, zum anderen den Chrissie, weil es den Holländer fast erwischt hat - eine Freude, die ich erst kürzlich beim Fußballspiel D - S an ihm beobachtet habe, als die Holländer in Schockstarre verfielen, beim Tor von Kroos in letzter Minute.

  3. Wie es Chrissie und der Holländer einstimmig empfohlen haben (kaum zu fassen!), habe ich die Seilschlaufen beim Einholen am Stand länger gelassen, um Seilsalat zu vermeiden - und dabei genau diesen verursacht. Das Gewirr fiel wie meine Haare am Morgen dahin wo es nicht sollte und versperrte, anders als meine Haare am Morgen, Chrissie den Weg. Das hat er nun davon.

  4. Auch nach dem 5. Versuch infolge habe ich es ums Verrecken nicht geschafft, das Seil beim Nachsichern richtig herum ins Reverso (Sicherungsgerät) reinzudrücken, unter mir der Seilsalat und noch weiter unter Chrissie, der versuchte, mir Tipps zu geben, die ich nicht verstand, noch weiter unten meine Laune, quasi unterirdisch.

Diese 4 Punkte des Grauens plus schlechte Laune am Morgen gaben mir schließlich den Rest. Unten heil angekommen raus aus dem Gurt, Trinkflasche und Schuhe auf den Boden gepfeffert, wortlos Sachen gepackt und vor Wut und Enttäuschung heulend und untröstlich von dannen gezogen. Zum Glück sprechen Chrissie und ich “the universal language of love”, sodass wir die Stimmung mit geschickter Pädagogik und Bier beseitigen konnten (so universal ist ist language of love, liebe Julia).

Das war schließlich der Punkt, an dem der wundersame Wandel einsetzte, und ein paar Minuten später tauchten dann noch Philippe und Romen auf, ein mittelalter und älterer Franzose, die wir am Tag zuvor beim Sportklettern kennengelernt hatten und denen wir seither im 10-Minuten-Takt begegnet waren. Erfrischt vom reinigenden Gewitter packte Chrissie sein bestes Kauderwelsch aus und wir tauschten mithilfe von Romens Englischkenntnissen und Philippes altersbedingtem Einfühlungsvermögen die Erfahrungen des Tages und Tipps für Klettergebiete aus. Hier zeigte sich, das man wohl keine gemeinsame Sprache sprechen muss, um sich zu verstehen - zwei Telefonnummern und eine Einladung später wussten wir, wohin uns ein Teil unserer Reise führen wird und freuen uns bereits auf die “secret spots”, die uns die beiden mit stolzer Brust zeigen möchten. Chrissie blühte bei dieser Aussicht regelrecht auf, und ich erholte mich in seinem Schatten.

Isa und Fabi machten den Abend schließlich perfekt: Wir saßen noch eine Weile beisammen und erzählten uns Geschichten über Menschen, die wir ohne die vielen wunderbaren Erinnerungen nicht vermissen würden. Kommt uns besuchen, damit wir neue schaffen können!

Und falls sich gerade jemand fragt, wie es dem guten alten Alberto geht: er erfreut sich großer Aufmerksamkeit, man muss aufpassen, dass es ihm nicht zu Kopf steigt.

Es ist die Kombination aus Schubladensystem, Regalen und den Just-Married-Aufklebern, die Männer wie Frauen bewundern (wobei wir inzwischen aus Just Married Just (M)Arri(v)ed gemacht haben, ist mehr zeitgemäß). Die Outdoorgemeinde ist sehr angetan von der Symbiose aus Pragmatik und Ästhetik - hierfür sei an Thomas Büchner (Schublade) und Josef Weis (Regale und Feintuning) verwiesen. Vor allem Letzterer beschäftigt sich eingehend mit dem Ausbau von mobilem Zuhause und weis aus eigener Erfahrung einer Weltreise, welche Tücken und Bedürfnisse unterwegs potenziell zu erwarten sind (hier sein Projekt, die besten Fotos und Blog https://bolly-hood.com)


Bisous,

Anna & Christian








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