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  • AutorenbildAnna Henschel

Panorama, Woche 5, Val de Queyras, Hautes-Alpes, Frankreich


Rechts im Bild, der Pain de Sucre, einen Steinwurf von der italienisch-französischen Grenze entfernt.


Wann hört Urlaub auf und wann fängt Reise an? Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass man für Letzteres seinen Job aufgegeben und das Land verlassen hat.

Ein möglicher Zeitpunkt könnte der Lagerkoller nach 4 Wochen an einem Ort markieren. Langsam haben wir genug von See in Eyglier und Lochkletterei an der Rue des Masques und am Mont Dauphin. Da wir jung, dynamisch und flexibel sind und Wanderlust bekommen haben, sind wir in Richtung Val Queyras aufgebrochen, um unseren Umgebungshorizont etwas zu erweitern, Beine wie Augen etwas schweifen zu lassen und die alpine Landschaft im Hinterland zu erkunden. Wenn man sich nicht auskennt, fährt man am besten einfach drauf los, haben wir uns gedacht, und so hat uns die Kombination aus Intuition, Übersichtskarte aus dem Office de Tourisme und Kletterführer in Richtung Fontgillarde geführt, wo wir von einem Wanderparkplatz an einem Fluss aus den Weg hinauf genommen haben, in der Hoffnung, über einen Rundweg um einen noch namenlosen Berg herum wieder ans Auto zu gelangen. Bereits nach den ersten Schritten zeichnete sich meine (Anna) körperlich miese Tagesverfassung ab, die Sonne sprengte mir den Helm, die Pumpe lief bereits am Startpunkt bei 2054 MüM auf Hochtouren, ich war fix und fertig - kaum auszudenken, das über den Tag hinweg durchzuziehen. Eichhörnchen Anna ernährte sich über die ersten 3 Kilometer sehr mühsam und fühlte sich wie vom Laster überfahren. Dennoch zog die Karawane in der prallen Sonne weiter, und ohne Sonnenhut, Wanderstöcke, gelegentliche Pausen im spärlichen Schatten und gutes Zureden von Chrissie wäre es an den Umständen gescheitert. Dafür eröffnete sich nach einer Weile das atemberaubende Panorama, das einem genau genommen den Atem wieder zurückgab. Und für den sich abzeichnenden Gipfel lohnte es sich ohnehin, weiterzugehen, auch wenn die immer dünner werdende Luft die Lungen zunehmend forderte. Schließlich gelangten wir 700 Höhenmeter weiter auf den Höhepunkt des Col de Longet auf 2701 MüM.



Dort nahm uns nicht nur eine Murmeltierfamilie in Empfang, sondern auch ein freundlicher wie erfahrener französischer Alpinist, der uns sehr gelegen kam und mit einer Wanderkarte aushalf, auf der tatsächlich ein Rundweg um die Bergkette herum eingezeichnet war.


Murmeltier





Einige Stunden, etliche Murmeltiere, Schafe, Ziegen und ein morsches kleines, für Touristen musealisiertes Dorf namens St. Véron weiter gelangten wir nach einer 6-stündigen Wanderung wieder an unserem Ausgangspunkt. Mit Annas taub gewordenen Beinen schleppten wir uns zur kleinen Snack Bar am Rande der Straße und genehmigten uns zum nahenden Sonnenuntergang ein kaltes Bier, das nach einem solchen Tag kaum besser schmecken könnte (auch wenn die Franzosen das Gebräu gerne in größere Flaschen abfüllen könnten als in ein 0,25 l Reagenzglas).

Ein Schlafplatz ließ nicht lange auf sich warten, denn 100 Meter weiter fanden wir ein nahezu perfektes Fleckchen an einem Bach am Rande der Straße, die auf der anderen Seite von einem Hang gesäumt war, auf der man “Kuh-TV vom Feinsten schauen konnte.



Das “Rinder-Duell” konnte es ohne Weiteres mit der WM aufnehmen, nach dem Abendessen saßen wir noch einige Zeit vor der Glotze und versuchten die Regeln des Spiels zu verstehen.








Überhaupt haben wir nach wie vor mehr Kontakt zu Tieren als zu Menschen, wenngleich wir besser französisch als kühisch, schafisch, fischisch oder murmlisch verstehen. Aber wir haben noch nicht aufgegeben. Derzeit versuchen wir uns, mit fliegisch vertraut zu machen, denn mit Fliegen haben wir den meisten, wenn auch unfreiwilligen Kontakt. Es ist vor allem schwer ihnen zu erklären, dass unsere Betriebszeiten zwischen 23 und 8 Uhr unbedingt zu beachten sind. Den Hinweis, dass das Auto keine Herberge ist, haben wir inzwischen aufgegeben. Hilft aber alles nichts.


Zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass der darauffolgenden Tag das bisherige Highlight der Reise werden würde. Das zeichnete sich auch noch nicht ab, als wir zur Wanderung über den Col Vieux aufgebrochen waren und unser Blick auf den 3208 Meter hohen Pain de Sucre fiel, einen Berg, der die Grenze zu Italien markiert. Wir kamen auf einen Punkt an dem wir eine phantastische Aussicht auf einen klaren Bergsee genossen und gerade dabei waren, uns zu überlegen, ob wir jemals die Mehrseillänge am Crête de la Taillante in Angriff nehmen würden, die in unserem Sichtfeld lag.


Lac Foreant, rechts ein Teil der Crête de la Taillante

Da entdeckten wir einen Pfad, der auf einen etwas höher gelegenen Aussichtspunkt führte, der den Blick auf den Pain de Sucre freizugeben schien. Wir beschlossen, hochzulaufen, der Weg führte zunehmend über karges, aber mit bunten Gewächsen durchsetztes Geröll, vorbei an Schneefeldern und losem Schiefergestein hin zu einem langgezogenen Schneefeld, das wir überquerten - und plötzlich befanden wir uns bereits am Fuße des großen Berges, der tatsachlich aussieht wie ein Zuckerhut.



Wir folgten einigen, wenigen Menschen, ohne lange zu überlegen, liefen wir einfach weiter nach oben und stellten dann auf der Hälfte fest, dass wir mitten im Zustieg auf den Gipfel des Pain de Sucre waren, und auch nicht mehr auf einer Wanderung, sondern aus unserer Sicht mitten auf einer Bergsteigertour, die durch abschüssiges loses Geröll führte. Ein kurzer Zweifel, sich tatsächlich bis ganz nach oben mühen zu wollen, wurde angesichts der realistischen Aussicht, es zu schaffen beseitigt, und so packten wir die Wanderstöcke ein, nahmen für die letzten Meter unseren Mut und unsere Hände zu Hilfe und kletterten auf großen Steinplatten auf den Gipfel hinauf. 3208 Meter - so weit oben waren wir noch nie gewesen. Die Wolken rauschten am Grat an uns hoch wie Gespenster, die Aussicht war atemberaubend und wir überrascht und überglücklich über diesen Zufall!




Kurz ein Käsebrot, und dann wieder runter, denn man weiß nie, wie die Wolken ziehen und sich das Wetter entwickelt. Eine Stunde später konnten wir vom Tal aus beobachten, wie ein großes Wolkengespenst den Berg verschluckt hatte, und mit ihm alle, die sich noch am Berg befanden. Zum Glück hat uns die Demut vor dem Gebirge und den klimatischen Bedingungen rechtzeitig wieder nach unten getrieben, denn das Spektakel des beständigen Wandels lässt sich am sichersten direkt am Col Agnel beobachten, der italienisch-französischen Grenze, wo Italien völlig im Nebel versunken dalag und man nur noch das sonnige Frankreich sah.



(Ehemalige) Grenze zwischen Italien und Frankreich

Die Parallele zur WM muss man hier wohl kaum erwähnen.

Um den Bogen zum Übergang von Urlaub zur Reise zu spannen, sei hier eines der wohl entscheidendsten Merkmale erwähnt, nämlich die Tatsache, dass Freunde zu Besuch kommen. Kommende Woche werde ich einige Tage mit meiner besten Katrin in Cëuse klettern. Danach werden wir noch eine Woche mit unserer wunderbaren Laure in Eygliers und Guillestre verbringen, gefolgt von Isa und Fabi, die uns überhaupt erst auf den Trichter gebracht haben, herzukommen. Bis Laure, Fabi und Isa eingetroffen sind, bleibt Chrissie für ein paar Tage alleine.

Gestern Nacht überkam ihn die Erkenntnis, er hätte in dem Fall hier nichts mehr verloren und könne genauso gut für zwei Wochen nach Hause fahren und arbeiten gehen. Aus mir völlig unbegreiflichen Gründen bin ich dann mitgefahren und wieder bei Karger gelandet, aber eigentlich nur für den Übergang (zu was eigentlich?) Ich habe viel Schokolade verdrückt in der Zeit, und plötzlich waren 2 Monate um und ich fragte mich panisch, warum wir eigentlich nur ein paar wenige Wochen auf Reise waren? Da half auch nicht, dass Olga, meine liebe alte Arbeitskollegin versuchte, den Spuk schönzureden. Chrissie war nicht auffindbar, um ihn dazu zu bewegen, wieder abzureisen, dafür aber stand plötzlich ein fetter Typ von der Sparkasse vor der Tür und meinte, wir könnten uns die Reise abschminken, denn er bräuchte regelmäßig Unterschriften für irgendwelche Finanzgeschäfte, dafür sei Chrissie vor Ort unentbehrlich. Plötzlich fiel ein Laster vom Himmel, direkt zwischen den fetten Typen und mich - wie nutzlos.

Als ich erwachte, befand ich mich neben Chrissie im Alberto, auf einem herrlich ruhigen, idyllischen Wanderparkplatz mitten im Wald von le Queyron, es war 6 Uhr morgens und ein neuer Tag begann auf einer Reise, die noch lange dauern und viele Überraschungen bringen wird.


A bientôt,

Anna & Chrissie



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