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  • AutorenbildAnna Henschel

Panorama, Woche 13 + 14, Diverse Täler, Südtirol


Blick vom Höhepunkt des Giro della Croda da Lago

Nein, die letzten beiden Wochen waren kein Filmriss, etwa aufgrund von verheerendem Verzehr von Aperol. Vielmehr war die Sendepause bedingt durch die Zerstreutheit der Autorin, die ihr Laptop-Ladekabel irgendwo im Nirwana versenkt hat und sich nicht erinnern konnte, wo. Und nun, da zumindest die technische Infrastruktur wiederhergestellt ist, ist es nicht ganz so einfach, die erlebten Episoden in ein Narrativ zusammenlaufen zu lassen, denn wir waren viel unterwegs, genau genommen im Schnitt alle zwei Tage woanders, nicht zuletzt, auch mehrfach an einem Ort, weil das Ladekabel da wieder aufgetaucht ist. Überhaupt lässt sich der permanente Ortswechsel aufgrund der Topographie der Gegend leider nicht ändern, überall Passstraßen mit kaum geschützten Buchten. Zudem das wechselhafte Wetter, alle paar Kilometer irgendwas anderes.

Entsprechend konnten wir in den vergangenen 14 Tagen der Beständigkeit des Wandels regelrecht bei der Arbeit zusehen. Die Sonne wirft immer längere Schatten, es wird Herbst und manchmal sogar schon Winter, wie vor ein paar Tagen, als ein Kälteeinbruch für Schneefall von gut 20 cm bis auf 1800 m sorgte. Auf dem Weg von Bruneck nach Cortina d’Ampezzo hat es uns auf dem Falzaregopass bei mittaglichen 4 Grad Aussentemperatur ziemlich kalt erwischt.


Vereister Chrissie am Falzaregopass

Den Wandel der Jahreszeit von Sommer zu Herbst in einem solchen Gebiet zu erleben, ist nicht nur beeindruckend, sondern erfordert auch ein hohes Maß an örtlicher Flexibilität und Geduld, will man nicht die Landschaft durch die Fensterscheibe erleben.

Nicht nur Alberto hat angesichts der häufigen Ortswechsel geschnauft wie eine alte Lokomotive, auch wir haben auf zahlreichen anstrengenden Höhenmetern bestaunen können, wie vielfaltig und unterschiedlich die Täler, Berge, Hochebenen und das Wetter Südtirols sind.


Cortina d’Ampezzo


Bei Versuch, dem Regen zu entgehen, kamen wir nach unserem Premium-Aufenthalt bei Gabriel in Innichen und einen kleinen Abstecher nach Bruneck zunächst an einen legendären Skiort, der den Charme von Olympia 1956 in 2021 mit der Ski-Weltmeisterschaft wiederzubeleben versucht, nämlich nach Cortina. Zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt eine Stadt, die sich ein bisschen wie ein Zoo der Schönen und Reichen präsentiert, mit vielen polierten Schaufenstern, hinter denen sich Valentino Gucci & Co. die größte Mühe gibt, die fehloperierten Nasen- und Lippen mit teurem Zwirn zu kaschieren. Ein antikes Eisstadion und zahlreiche Lifte deuten auf die Sporttradition des Ortes hin und ein neuer steiler Skihang in Baustellenstatus verheißt die Pläne für die neue Saison, wobei zu hoffen ist, dass hier die Operation erfolgreich verläuft, trotz der denkbar schlechten Idee, die Piste im Herbst zu ende zu bauen, wo die Erde mit zunehmenden Regenfällen unkontrolliert heruntergespült wird. Bei einer Hotelauslastung von gerade mal 25% kann man sich denken, dass die Stadt gerade vor sich hinträumt. Sportler sucht man dort eher vergeblich, hin und wieder blitzt ein blanker Fuß in Flipflops auf. In den höheren Lagen auf den Pässen um Cortina herum lässt es sich gut aushalten und auch wild übernachten, das scheint keinen zu interessieren. Dafür finden Chrissies Yogafiguren umso mehr Beachtung. Was die umstehenden Kühe vielleicht nur dachten, haben zwei drahtige 60-jährige Rennradler kommentiert, als sie um die Kurve hechelten und Chrissie gesehen haben, wie er gerade dabei war, eine schwierige und anstrengende Assana auszuführen. Kommentar eines der alten Haudegen: “Jo, was is’n deees?! Öh, i docht scho….(ja, was eigentlich?).” Paar Meter weiter sagt der andere: “Is halt a Bequemer…” Ein Bequemer! EIN BEQUEMER!!! Versuch das doch mal selbst, du Affe, das ist eine der härtesten Yogaübungen ÜBERHAUPT! Seither gelingt die Übung noch besser.


Chrissie ist halt ein Bequemer...

Vielleicht liegt das aber auch an der Motivation, den Körper geschmeidig zu halten. Es ist nämlich immer wieder richtig kalt, aber so nasskalt, dass man sich Klettern abschminken kann und die Knochen rosten. Zudem hatten es die Wanderungen der vergangenen Tage in sich, die Schindereien haben sich aber mehr als gelohnt, wie die folgenden Bilder der Tour an den Lago da Federa andeuten. Die erfolgte Umrundung des Croda da Lago war auch unsere schönste Wanderung bisher.



Dennoch: Jedes noch so schöne Foto kann diese phänomenale Landschaft nur andeuten, die sich Bild und Schrift entzieht. Am besten, man setzt sich in Gang und erwandert ein paar Kilometer davon oder schnappt sich ein Rad und fährt die zahllosen Passstraßen ab, um einen Eindruck zu bekommen.


Laste


Wir haben leider keine Räder mitgenommen: eins der wenigen Dinge, die wir bereuen. Dafür hat sich Alberto ein paar Tage später viele weitere Serpentinen hochgehustet und uns schließlich in Laste ausgespuckt, am Arsch der Welt also. Der Arsch der Welt präsentiert sich bei Nebel und kaltem Regen besonders einladend, aber wir wollten da unbedingt hin, weil es hieß, die Kletterei sei einmalig. Als einmalig hat sich am Ende unser Besuch entpuppt, denn entgegen der Wettervorhersage hat es nicht aufgehört zu regnen, also bleiben wir nur eine Nacht und fuhren unverrichteter Dinge ab. Wer jedoch glaubt, wir hatten Alberto umsonst um die Kurven gescheucht, dem sei die lustige Familie nicht vorenthalten, die uns in dieser gottverlassenen Gegend plötzlich aus dem Dickicht des Nebel regelrecht angesprungen hat: “Tedesci??!!!” “Tedesci!!!” Für den Höhepunkt des Tages reicht es einer italienischen Familie aus Belluno offenbar aus, dass wir aus Deutschland kommen, und es spielt auch keine Rolle, dass wir kein Italienisch sprechen. Ohnehin muss die Sprache großer Gestikulierung weichen, als klar wird, dass wir reisen und auch auf Reisen nicht arbeiten - Deutsche ohne Arbeit, unvorstellbar. Man kann ja 2 Wochen reisen, aber doch nicht 7 Monate! Und dann auch noch nach Laste! Verrückt. In der nächsten halben Stunde folgt eine Abhandlung über Europapolitik in Kauderwelsch, auch die Meinung über Macron, Merkel, die Madonna, Italien und Fußball muss ausgestikuliert werden, Chrissie fängt sich einen Sympathie-Bonus ein, weil er heißt wie der Gesalbte, darauf bekreuzigt sich der alte Italiener vor dem Kruzifix, das selbst in Laste zu finden ist - vielleicht doch nicht so gottlos, die Gegend, und überhaupt scheint Gott viel Humor gehabt zu haben an diesem tristen Tag - bei so viel Freude aus dem Hinterhalt.

Man soll die Party bekanntlich verlassen, wenn sie am schönsten ist, und so sind wir am Folgetag abgerauscht, im Versuch, dem Regen zu entgehen. Dafür mussten wir allerdings bis nach Bozen fahren, wo wir am Ende des Tages nicht nur doch noch ein paar Routen klettern konnten, sondern auch spontan an einem Festmahl bei der Familie meiner lieben Freundin Mirijam teilnehmen durften, wo aus einem geplanten Familientreffen eine Begegnung von Reisenden wurde: Die Schwester kam gerade aus Tansania, der Bruder von einem Interrailtrip, weitere Freiburger Freunde, Lutz und Maria, touren zu Fuß durch Europa und lassen sich als angehende Lehrer unterwegs von alternativen pädagogischen Konzepten inspirieren (http://step-stiftung.de/WP/?page_id=11685). Angesichts solch sinnstiftender Motivation verblasst der Fels, an dem wir klettern und es steigt die Motivation, Kinder in die Welt zu setzen, allein weil die Hoffnung besteht, dass sie einmal von solchen Lehrern unterrichtet werden könnten.


Freunde, Fremde, Gönner und Getreue


Überhaupt sind die Begegnungen mit Freunden, Fremden, Gönnern und Getreuen neben der Erfahrung von Landschaften ein anderer wesentlicher Aspekt, der das Reisen besonders macht. Für mich gehören sie zu den sinnstiftenden Elementen dieses langen Ausflugs, der einerseits landschaftlich viel Abwechslung bietet, dem man jedoch auch eine Art “abwechslungsreicher Monotonie” nicht absprechen kann: 24h zu zweit auf engem Raum, Wandern, Klettern, Essen, Einkaufen, (schlecht) schlafen, suchen, suchen, suchen: nach einem Platz zum schlafen, einem Hallenbad, einem Waschsalon, dem Zustieg zum Klettergarten, einer regenfreien Zone, Wifi, Stromanschluss…manchmal fallt es mir schwer anzuerkennen, dass es eben gerade genau darum geht, um die einfachen und scheinbar selbstverständlichen Dinge, um Verzicht und Geduld und die Erkenntnis, was einem wichtig ist im Leben. Für mich ist das zweifelsohne der Austausch mit Menschen, die Inspiration und die Ausdehnung des eigenen Horizonts, die daraus erwachsen. Der besondere Wert erwächst aus der Situation, den eigenen Job hinter sich gelassen zu haben und völlig offen zu sein für den zukünftigen, insbesondere da ich trotz vieler inspirierender Beispiele keine Ahnung habe, was ich mit meinem angebrochenen Berufsleben machen soll. Irgendwas mit Holz wird es wohl nicht sein, obwohl Alex, Mirijams Partner, für seinen Umgang damit zu beneiden ist.


ruralurban / mirijam_____h


Neben Gabriel, unserem Ombudsmann in Innichen, ist auch Alex ein Selfmade-Man, wie so viele junge Menschen in Südtirol. Selfmade ist hier im wahrsten Sinne zu verstehen, denn seit seinem Abschluss an der Kunstakademie vor sechs Jahren hat er sich selbstständig gemacht, mit schönen Dingen aus Holz: Tische, Sideboards, Nachttische, in verschiedenen Farben und Linien.



Im Verbund mit anderen Menschen, die schöne Dinge aus Metall, auf Leinwand, zum Gucken und Anfassen machen, werkeln die Lifestyle-Desiger von morgens bis abends an einem Arbeitsplatz in einer Werkhalle, die das Konzept aus traditionellem Handwerk und modernem Design bis hin zur Gestaltung der Toiletten glaubwürdig widerspiegelt. Für das Business hat Alex keine handwerkliche Ausbildung gebraucht, war offenbar auch weder Thema noch nötig.



Der Spross einer erfolgreichen Sportlerfamilie aus der Langlauftradition vertraute schon früh auf sein künstlerisches Talent und investierte gleich nach dem Kunststudium in die eigene Idee, das Handwerk war dann learning by doing, kann wohl nicht so schwer sein. Und genau so wirkt es: Die Art, wie Alex seine Arbeit gestaltet wirkt leicht, genau wie das Möbeldesign von ruralurban (ruralrban.eu). Daheim geht es gleich so weiter: Mirijam und Alex leben eingebettet im unteren Bereich eines Schlosses, das Googlemaps nicht findet.





Viel Holz, viel Stein, viel Provisorium, weil die Perfektion sich im Tageswerk erschöpft hat, auch bei Miri, die sich für den Lebensunterhalt dreiteilt - als Lehrerin, Museumsführerin und begnadete Künstlerin. Auch sie eine Selfmade-Woman, die sich nicht scheut, immer wieder etwas anderes auszuprobieren, bis die Kombination passt, sich gut anfühlt und im besten Fall in einem neuen Meisterwerk Ausdruck findet.


Mirijam Heiler. Bleistift.

Es lässt sich schwer sagen, ob es die verschiedenen Täler sind, die verschiedene Perspektiven auf die eigene Heimat hervorbringen und ob sich deshalb die Geister scheiden, ob Innicher Kaiserwasser nun Premium oder Plörre ist. Einig sind sich Alex und Gabriel jedenfalls im Urteil, dass Südtirols sauberes Image ein Mythos ist, der durch Touristenschwemme gemolken wird, die außer Kontrolle geraten sind und die Preise in der Region kaputtmachen - in verschiedener Hinsicht. Ob Tages- oder Pauschaltouristen: es sind zu viele. Auf der anderen Seite boomt dadurch das Handwerk, es wird so viel gebaut wie noch nie zuvor, das merkt auch Alex.

Damit geht aber auch der Charme eines Gebietes verloren, für den die Touristen schließlich auch herkommen - und so erschweren niedrige Hotelpreise und Pauschalangebote auf der einen und überteuerte Regionalprodukte auf der anderen Seite das Leben in diesem Gebiet, das nichtsdestotrotz nach wie vor zu den schönsten Naturlandschaften Europas gehört - auch wenn es uns nicht leicht macht, die Region mit unserer Reiseform zu erschließen.



Dennoch: Der Luxus, die Zeit hier mit Gabriel, Miri und Alex verbracht und dazu gelernt zu haben, ist unbezahlbar und weder in einem Pauschalangebot noch einem 5-Sterne-Hotel zu haben.

Und heute, anlässlich des 100sten Tages unserer Reise, gönnen wir uns ein Stück Mythos und besuchen den Ötzi im Archäologischen Museum in Bozen - mal sehen, wie viel noch von ihm übrig ist, schließlich wird er von Tag zu Tag 2 g leichter. Nun ja, halbe Stunde später, Planänderung: Am Ende des Tages haben wir statt archäologischer Fundbewunderung archaische Feldbearbeitung betrieben und so viel Gestrüpp und Heu zusammengetragen, dass es für drei Tage Muskelkater aus der Hölle reicht - damit Miri und Alex nicht in 5000 Jahren unter ihrem Grundstück von Unkraut überwuchert gefunden werden, sondern man sie noch in diesem Leben in ihrem neuen Haus besuchen kann.





Pfiat enk!

Anna & Chrissie

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