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  • AutorenbildAnna Henschel

Katerstimmung, oder: der Abstand zwischen Erinnerung und Gegenwart




Nach einer witterungsbedingt etwas holprigen Fahrt, auf der uns in Frankreich eine vereiste (Eng)Pass-Straße zum Rückzug im Rückwärtsgang gezwungen hat, sind wir wieder zu Hause.


Der Nachspann

Zuhause ist aber ein sehr schwammiger wenn nicht gar wässriger Begriff. Irgendwie rinnt alles zwischen den Fingern durch, was vor 8 Monaten noch feste Substanz war und seine Berechtigung hatte. Was früher wichtig war, wirkt heute entbehrlich. Anders ausgedrückt: Wir finden uns schwer zurecht und kämpfen mit der Orientierung, sperren uns noch gegen das was ist und verweigern die Trennung von Erinnerungsträgern, deren Zersetzung bereits in vollem Gange ist



Die Vorfreude auf das Vertraute und auf Zuhause weicht der Enttäuschung, dass sie nicht hält, was sie verspricht, und das nicht nur, weil es sich nach Auszug der Zwischenmieter so anfühlt, als würden wir unsere leere Wohnung komplett neu beziehen. Die Wärme der Heizung verursacht Kopfschmerzen, die frische Luft weicht dem Hausstaub, das vertraute Sprachumfeld zerreißt den Geist in Stücke, genau so wie der Anblick all der materiellen Dinge, die wir zurückgelassen haben: Klamotten, Geschirr, Elektrogeräte, Kleinkram: All das brauchten wir die letzten Monate nicht, und mit dem Abstand kommt der Widerstand, und es kommt uns gänzlich nutzlos vor. Noch. Das Zusammenspiel alter damals vertrauter Bedürfnisse überfordert uns und befremdet das Gemüt.

Das Grundrauschen steigert sich in meinem Kopf seit unserer Rückkehr zu einem Crescendo: Es ist hektisch hier in Deutschland, im Supermarkt, in der Kommunikation, im Allgemeinen, die Menschen sind angespannt und konzentriert auf den Abstand zwischen Kopf und Brett und reagieren verstört auf den herzlichen Gruß, mit dem man sich nicht nur in Spanien begegnet. Plötzlich versteht man die Sprache wieder, das erleichtert den Umgang mit dem Umfeld jedoch nicht. Man hört was die anderen sagen, versteht es aber kaum, weil der Kopf noch unter Wasser steckt. Die Teilnahme und Teilhabe an unserem gesellschaftlichen Leben ist noch etwas fragil und unbeholfen, das Tempo und die Lautstärke der Stadt sind eine Herausforderung für sich. Daher macht sich unendliche Dankbarkeit gegenüber unseren Familien und Freunden breit, die uns das Ankommen erleichtern und geduldiges Verständnis für unsere "Verzögerung" zeigen. Das Leben wirkt mit Abstand der letzten Monate komplex und eigentümlich kompliziert. Ich bin schon allein mit drei festen Terminen in der Woche vollkommen am Anschlag, wenn nicht überfordert, und habe Mühe, meinen sozialen Bindungen, die ich auf Reisen so sehr vermisst habe, gerecht zu werden. Zwischen Sehnsucht und Realität ist Raum, den man schwer einsehen kann und oft nicht versteht, was sich darin abspielt. In Spanien wollte ich wieder nach Hause, Zuhause will ich wieder in die Fremde. Chrissie hatte selten Probleme mit einem solchen Zwiespalt. Die Wucht des Aufpralls unserer kleinen Raumkapsel hat Staub aufgewirbelt, der Zeit braucht, um sich zu legen.

Ich wundere mich unterdessen über mein Alter Ego, wie es vor nicht mal einem Jahr Freunde, Familie, Sport und eine 100%-Stelle unter einen Hut bekommen hat, ohne dass sich seine Hirnschrauben gelockert haben. Die Antwort: Alles eine Frage der Gewohnheit. Auf das Tempo müssen wir uns erstmal wieder einlassen, aber mit Bedacht und niedrigdosiert. Sonst laufen die großen Wirkungen dieser Reise Gefahr, zu Staub zu zerfallen, und ich würde mich fragen, ob wir die dazugehörigen Erfahrungen überhaupt jemals tatsächlich gemacht haben: Ein einfaches Leben und Entschleunigung lassen viel Raum für ein sensibleres Selbstgespür und die Wahrnehmung der Umgebung, die wir auf unzähligen Wanderungen erkundet haben.


Der Film

Außer Klettern, Yoga, Wandern, Waschen, Schwimmen und ein paar schriftlichen Zeilen gab es oft nicht besonders viel zu tun.



Manchmal war es auch schlichtweg langweilig (was daheim weniger auffallt, weil man für Zerstreuung mehr Ressourcen zur Verfügung hat wie Fernsehen, Internet, Garten oder Hausarbeit).

In der Zusammenschau jedoch hat uns das Zusammenspiel aus Landschaften, Bekanntschaften, Umständen, Empfehlungen, Zufällen und Wetterlagen einen Erinnerungsfundus geschaffen, der uns noch lange nachhängen und die Gegenwart herausfordern wird.




Dieser Nachspann erfordert nicht zuletzt auch einen besonderen Dank an diejenigen, die an diesem legendären Film mitgewirkt haben:


Die Darsteller

Thomas und Josef für die Einrichtung unseres mobilen Zuhauses; unseren Hochzeitsgästen, die uns finanziell unterstützt und mit uns das beste Fest von allen gefeiert haben; unseren Eltern und Geschwistern, die zu jedem Zeitpunkt mit offenen Ohren für uns da waren und uns die Bürokraten vom Hals gehalten haben; dem netten Mann von der französischen Post, der meine unfrankierten Postkarten aus dem Briefkasten gefischt hat; Florian, dessen Gesellschaft in Guillestre eine Wohltat war; unserer Freundin Laure, die unser verlängerter Arm in Freiburg war und eine beispiellos loyale und treue Freundin für uns beide; Anne, die weiß und versteht, wie es ist fort zu sein und wieder anzukommen; die “Güchners”, die einen weiten wie belastenden Weg auf sich genommen haben, um Zeit mit uns zu verbringen; die beste Katrin von allen, mit der ich einen gemütsberauschenden Urlaub von der Reise in Céüse und sogar Weihnachten in Spanien verbringen durfte; Fabi und Isa, die mutig und erfolgreich gegen die Mühlen der Bürokratie rebelliert und ihren Protest mit uns in Ailefroide, Frankreich, gefeiert haben; Franziska und Andreas, die alle 10 Jahre ihren kleinen kuscheligen Campingplatz mutig und erfolgreich gegen die Fluten der Tarn verteidigen und sich mit einer Trompete gegen verhaltensgestörte Augusturlauber wehren, genauso wie ihr treuer Freund “La Nonne”, der uns mehr als nur einmal in seinem Kloster empfangen, bewirtet und über die Zustände in Frankreich und in seinem eigenen bewegten Leben aufgeklart hat; die beiden unbekannten Jungs, die uns aus der Hüfte heraus unseren kaputten Reifen gewechselt und uns damit wohl das erste ernstzunehmende Ehedrama erspart haben; Gabriel, der uns Innichen zu Füßen gelegt hat; Miri und Alex, die uns einen Einblick in ein inspirierendes Leben zwischen Kunst, Handwerk, Stress und Utopie gegeben haben; Florian und Frieder, Wabi und Fube, Hannes und Rupi sowie all die anderen aus dem Tal der Ahnungslosen, die mit uns die Sinn(t)fluten in Veravo erörtert haben; Tina, Markus und Pirmin, mit denen wir in Chulilla schnell zusammengewachsen und über mehrere Wochen wie eine Nomadenfamilie durch Land und Fels gezogen sind; der herzensgute Rupi, der sich immer da zeigt, wo man ihn auch vermutet und für jedes spontane Abenteuer zu haben ist; Nick, Nicole und Pedro Perro, die treue, angenehme Wegbegleiter waren und in schweren Zeiten weltbewegende und bergversetzende Perspektiven aufgezeigt haben (vor allem Nick); Nikel, Nela, Mira, Micha und Rebekka, die mit ihrer Fernwärme ebenfalls einen bedeutenden Beitrag zu meinem Wohlergehen geleistet haben; Alex und Till, die mit ihrer Gelassenheit und Lebensfreude zu einer der entspanntesten Atmosphären auf der ganzen Reise beigetragen haben; Rado und Sam, die wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort kennengelernt haben; Moni, Jürgen und Maik, die herzlich und inspirierend waren und zusammengenommen den Hybrid dessen bilden, wie ich sein will, wenn ich groß bin; unsere greise Nachbarin in Tárbena, der es egal war, dass wir ca. 5 von 10.000 Worten ihres halbstündigen Sermons in spanischer Sprache nicht verstanden haben, denn gute Nachbarschaft geht eh durch den Magen; Matteo, dem Leiter der Baustelle vor Monas Haus, dem wir zum Dank für seine Aushilfe mit dem Brennholz, das gar nicht ihm gehört, eine Flasche Schnaps von meiner Mutter geschenkt haben, die er fachmännisch zum Einlegen von Khakis verwendet hat anstatt den Gaumen damit zu ölen; Marcel, einem Deutschen auf ebendieser Baustelle, der mal hier mal da, auch als Krankenpfleger, mal mehr mal weniger erfolgreich versucht, sich in Spanien ein bescheidenes aber angenehmes Leben einzurichten; Mona, die verstorbene Mutter von Johannes, die ihr Haus in Tarbena mit einer gleichsam eleganten wie behaglichen Handschrift versehen und ihren bestechenden Sinn für Stil auf viele kleine und große Hinterlassenschaften und Kompositionen verteilt hat; und nicht zuletzt Johannes, ihren Sohn, ohne dessen Großzügigkeit und Herzlichkeit wir dieses Haus wohl weder betreten noch darin hätten sorgenfrei wohnen dürfen. Viele der hier erwähnten Begegnungen hätten wir ohne diese Möglichkeit nicht gehabt und hätten sie an Weihnachten auch nicht in dieser Weise und an diesem Ort zusammenführen können.





Die Kulisse

Die Kulisse (mitsamt ihrer unterhaltsamen wie spontanen Tierwelt) dieser Begegnungen erfordert eine eigene Würdigung, denn sie trug zumindest für mich entscheidend zur Wahrnehmung und Bewertung von Situationen und Erlebnissen bei. Nur: Wie würdigt man Landschaften und die Umgebung, die so komplex wirken, dass man es nur erspüren kann?




Die Szene

Darin zeigt sich ein Paradebeispiel dessen, worin die Gegenwart einer Erinnerung voraus ist, nämlich die Empfindung im Moment des Erlebens. In diesem Moment ist alles stimmig, nichts fehlt, alles ist vollkommen. Meist hatten wir dann nur einen Rucksack mit Essen und Trinken, sommerliche Kleidung, seit einiger Zeit nicht geduscht, die Haare waren fettig und die Hände dreckig. Diese Momente sind sehr kostbar und kurz.



Der Abgang

Jetzt müssen wir nur noch die Transferleistung hinbekommen und erkennen, dass lediglich die Umgebung sich geändert hat, mit ihr aber nicht das Potenzial, sich von ihr beeindrucken lassen zu können.



In diesem Sinne trinken wir nun neuen Wein aus alten Schläuchen: Christian hat bereits den ersten Schritt getan und nimmt seine Laufbahn zum Facharzt wieder auf. Und ich? Bin immer noch orientierungslos und auf der Suche nach beruflicher Inspiration, irgendwo zwischen journalistischer Arbeit, Bewegungstherapie und Sprachvermittlung - Hauptsache ein bewegter und bewegender Job. Vielleicht hat Thorry eine Idee, dem wir nicht zuletzt danken für seine jederzeit erheiternden, konsequenten wie charmanten Kommentare zu unseren Reiseberichten, die wir mit diesen Zeilen und völlig unsentimental nun abschließen.


Alles Gute und vielen Dank für euer Interesse, eure Freundschaft und Unterstützung!


Anna & Chrissie

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