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AutorenbildAnna Henschel

Frisch, Frost, Frühling, frei.



Es ist Samstag, der 12. Januar 2019, und damit nur noch sechs Wochen bis zu unserer Heimkehr. Je flacher der Reisehorizont in Richtung Zukunft wird, desto breiter und tiefer wird der Erinnerungsschatz an Orte, Menschen und Begebenheiten der letzten 7,5 Monate. Immer wieder tauchen Bilder auf, die sich besonders im Gedächtnis verhaftet haben, einige werden von monumentalen Fotos begleitet, einige von starken Emotionen, die sich nicht in Fotos rahmen lassen. Und dazwischen ist die Zeit des Hier und Jetzt, die wir versuchen in vollen Zügen zu genießen, wenngleich immer wieder ein kühler Nordwind bläst, der uns darauf aufmerksam macht, dass die Zeit der uferlosen und einnehmenden Naturerfahrung, der spontanen Tagesgestaltung, der geistigen Freizeit und der reizvollen Verführung durch das Ungewisse und Unbekannte, das viele Tage begleitet, tatsächlich bald Erinnerung sein wird. Wir reiten zwar nicht jeden Abend gen Sonnenuntergang, aber verstauben gerne und verdrecken hin und wieder wie Indiana Jones, lassen uns oft durch den Tag treiben, von spontanen Begegnungen inspirieren, nehmen sie mit, lassen sie wieder gehen und freuen uns immer wieder aufs Neue, dass diese Welt so viele herzliche Menschen hervorbringt und uns immer wieder mit Kulissen von atemberaubender Schönheit berauscht.





Damit alles weiterhin im Fluss bleibt, müssen auch wir uns bewegen, daher sind wir ja auch mit Ende des letzten Beitrags nach Vallada aufgebrochen, für ein wenig frischen Wind nach der luxuriösen Weihnachtszeit in Monas Haus. So frisch und ruppig hätte es allerdings auch nicht sein müssen: im spärlichen Licht der Autoscheinwerfer folgten wir zunächst einer verstörten Google-Route, irrten dann diverse male auf engen Schotterwegen im Kreis und kamen dann schließlich Dank Chrissies Orientierungstalent auf einem Parkplatz inmitten eines Orangenhains an, in dessen Umgebung wir die nächsten Tage mit klettern, frieren, kochen, auftauen, frieren, schlafen, frieren und der Jagd nach den ersten Sonnenstrahlen des Tages verbrachten.





Dann und wann suchten wir uns einen anderen Platz zum stehen, Hauptsache weg von diesem Betonhäuschen mit den Totenkopfzeichen an der Fassade und den roten Rohren, die gefährliche Geräusche machen, während sie die Chemikalien in den uferlosen Orangenhain pumpen.


Silvester




Der Kontrast zur Wärme, Sauberkeit, Sicherheit, Gesundheit und Geselligkeit der letzten Tage tat uns gut, und so verbrachten wir schließlich auch den Umbruch von 2018 auf 2019 zu zweit im Alberto mit:

- je einem Dosenbier für Chrissie und mich (haben verpennt, Nachschub zu besorgen)

- 2 kg Käse, am Stück, eingeschweißt

- einer 80er Jahre Playlist mit Hits von Chaka Khan, Soul II Soul, ABC und Whitney Houston

- Jahresabschluss-Korrespondenz mit Freunden und Familie, in denen wir Chrissies Schwester und meinem Bruder den guten Vorsatz ans Herz legen, doch mal unseren Blog zu lesen, damit wir nicht immer alles aufwärmen müssen

- einer sonderbar ausgelassenen Stimmung zwischen Irrsinn, Lachanfällen und vorzeitiger Müdigkeit

- einem spartanischen Mini-Feuerwerk um Mitternacht in der Umgebung, das kaum mehr gedauert hat als ein kurzer der Gang zum Klo (die EU könnte mal darüber nachdenken, das zum Standard zu erheben, statt die Spanier dazu zu treiben, ihre Siesta aufzugeben)


Silvester also kaum der Rede wert, daher waren wir ausgeschlafener und munterer als die anderen verkaterten Kletterer, die Neujahr an der winterkalten Nordwand in keinem guten Zustand überlebt hätten. Die Luft wird erst am späten Mittag milder und muss dann bald dem frühen Abend weichen, der die Sonne immerhin Tag für Tag wieder etwas später schluckt. Nachts sinken die Temperaturen zwar nicht ins bodenlose, aber doch auf Boden-Niveau, morgens hat es kaum etwas über null. Ohne Standheizung muss der Körper umso mehr arbeiten, auch ohne Hilfsmittel wie Schnaps oder Wärmflasche.


Tango am Tierra de Nadie


An diesem Punkt drängt sich immer wieder die gedankliche Gegenüberstellung auf: Friere ich lieber die halbe Zeit meines täglichen Daseins und versuche den kalten Gliedern einen gelungenen Tango am Fels zu entlocken oder geh ich lieber den ganzen Tag in einem überhitzten Büro arbeiten und spiele 8 Stunden Walzer an der Tastatur. Das Ergebnis dieses Gedankenexperiments muss nicht lange erörtert werden, klettern macht nach wie vor und sogar immer mehr Spaß, je mehr man sich auch mit dem Gedanken anfreundet, zu scheitern. Es ist eine anderen Form der Arbeit, die von niemandem maßgeblich bewertet wird außer von einem selbst, eine Arbeit, der man sich hingeben kann, in der man ganz aufgehen kann, im Detail oder im Ganzen, in den verschiedensten Ausführungen und Ansprüchen.

Wir hatten unseren neuen Spielplatz “Tierra de Nadie” mehr als nur über Neujahr fast für uns allein. Selten haben wir eine so überragende Wand beklettert.



Die Komposition aus Felsqualität, Bewegungs-Choreographie und Ausdaueranspruch war einmalig und eine Sinfonie für Körper und Geist, die Kälte ein Tod, den man dabei gerne gestorben ist. Allein schon für diesen Klettertipp sind wir Nick und Nicole mehr als dankbar, mit denen wir dort unsere letzten gemeinsamen Tage verbracht haben.


Abschied


Als die beiden ein letztes Mal den eigenwilligen Pedro Perro bei Fuß riefen, nachdem sie sich mit einer vorerst endgültigen herzlichen Umarmung verabschiedeten, um ihren Weg weiter nach Süden fortzusetzen, und der räumliche Abstand sie immer kleiner werden ließ, je mehr sie sich entfernten, war klar, dass dies einer der emotionalen Momente werden wird, die sich in meinem Kopf festsetzen werden, auch wenn es kein Foto dazu gibt - schon allein weil die Erinnerungen, die sich in diesem Anblick verdichten, viele Szenen, Erfahrungen und nachhaltige Gespräche einschließen, die wir miteinander geteilt haben. Aber auch weil dieser Abschied den Auftakt eines größeren, umfassenderen Abschieds bedeutet.


Moni, Jürgen und Maik


Eine Woche später wärme ich mich wieder an der Sonne vor Monas Haus, während Chrissie bei den Aufräumarbeiten am Auto von einem deutschen Pärchen im besten Alter angesprochen wird mit der Frage nach einer Wasserquelle. Wo könnte man besser auftanken als in Monas Haus, und so lernen wir Moni und Jürgen kennen, die seit sechs Jahren die Wintermonate auf vier Rädern in Spanien verbringen, während daheim Jürgens Schreinereibetrieb auf Eis liegt und der Bio-Selbstversorger-Garten, den Moni bewirtschaftet, unter der Schneedecke ruht. Bei einem spontanen Kaffee machen wir uns miteinander vertraut genug, um uns bereits für die nächsten Tage zum Klettern, Wandern und Abendessen zu verabreden.




Moni und Jürgen sind uns nach kurzer Zeit vertraut wie alte Freunde, was nicht zuletzt an den bemerkenswert entspannten und herzlichen Gemütern liegt. Der Gesprächsstoff wird immer wieder neu befeuert von der inspirierenden Lebensweise der beiden zwischen Selbstversorger, Weltenbummler und Familienmenschen, aber auch von den zündenden Fäden, die die Biografien auf verblüffende Weise miteinander verbinden. So wird im Verlauf der gemeinsamen Zeit deutlich, dass Jürgen an der Kletterhalle mitgebaut hat, die Chrissie und ich in Wiesbaden bei unseren Familienbesuchen beklettern. Monis und Jürgens Freund Maik, der erste Sachse, den wir seit längerer Zeit treffen und Steppenwolf auf Tour durch Spanien, hat wiederum als Dachdecker am Refugio in Rodellar mitgebaut, wo Nicole im Sommer Kletter- und Yogakurse gibt. Skurril und erheiternd ist der Zufall, dass Maik Hannes kennt, den Alten aus dem “Tal der Ahnungslosen” mit seinem Hund Ruppi, den wir vor einigen Monaten in Veravo kennengelernt haben. Die (Kletter-)Welt ist klein und wächst auf magische Weise in Tárbena um Monas Haus herum zusammen, in dem wir nun unsere letzten Tage im Hinterland der Costa Blanca verbringen.

Kommende Woche begeben wir uns feierlich auf so etwas wie die letzte Etappe unserer Reise und bewegen uns langsam Richtung Norden, wo die hier bereits in voller Blüte stehenden Mandelbäume kargen Landschaften weichen werden, die der Frühling, den wir hier erleben, noch nicht erreicht hat.







Schöne Grüße,

Anna & Chrissie

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1 Comment


Karl-Heinz Thoran
Jan 12, 2019

Jahresabschluss mit je einer Dose AMSTEL, der kleinen Schwester vom HEINEKEN ;-) Und das in Spanien! Da kann man ja am nächsten Morgen die Wände hochklettern. Besser und schneller als die anderen ;-) Jahresabschlusskonferenzen mit Verwandt – und Bekanntschaften. Danach Lachanfälle! ? Wieso das denn? Christian hat mich auch auf dem Handy angerufen. Er klang da noch recht entspannt (so gegen 20.15 und 20.45 Uhr). Das AMSTEL muss eine Depotwirkung gehabt haben. Oder war mit THC geräuchert worden ;-) Ja, der lange Abschied. Noch sieben Wochen. So lange waren früher die Sommerferien in der Schulzeit nicht. Also, ihr habt noch viel Zeit. Aber fahrt nicht so schnell gen Norden. Hier ist es noch ziemlich kalt. Und die Alpen sind vo…


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