Mal a la coeur
Vor einigen Jahrzehnten hatte Familie Seidl (Eltern von Chrissies Mama) Besuch von einer französischen Austauschschülerin. Eines Tages konnte sie nicht mehr an sich halten und es brach aus ihr heraus: "J’ai mal a la coeur!” Als Mediziner befürchtete Opa Seidel sofort das Schlimmste und war vor allem irritiert, dass man ihnen ein herzkrankes Kind angedreht hatte, um das man sich auch noch kümmern musste. Es stellte sich jedoch recht schnell heraus, dass die Franzosen das Herzweh nicht wörtlich, sondern poetisch nehmen, nämlich als Ausdruck ihres Heimwehs.
Ob die deutschen, britischen und holländischen Rentner, die mindestens den Winter über die Costa Blanca bevölkern, wohl so etwas wie Heimweh kennen, wenn sie den Winter hier zu zweit oder alleine verbringen? Zumindest haben sie inzwischen für eine Infrastruktur gesorgt, die es ihnen recht einfach macht, sich Zuhause zu fühlen: Bars, Restaurants, Spas, Hotels, Laden, Friseure, (Zahn-)Ärzte - alle bieten den mehrsprachigen Umgang an, davon sind nicht wenige selbst Deutsche, Holländer oder Briten, die sich vor langer Zeit hier in der Gegend um Alicante herum niedergelassen haben: weil es sich lohnt, die “Teilzeitspanier mit Migrationshintergrund” zu versorgen, sei es auch nur für die Wintermonate. Die Winterkollektion ist aber nur die Spitze des Eisbergs, wenn man die Wüste an leerstehenden Häusern und Wohnungen sieht. Kilometerlanger Leerstand, der..ja wann eigentlich bewirtet ist? Jetzt, Anfang Dezember, herrscht an der Costa Blanca Plaisir-Klima vom Feinsten, es ist sonnig bei 20 Grad, der Wind ist lau bis frisch, die Frisur ist aber schon seit langem ruiniert. Wann wenn nicht jetzt wäre die ideale Zeit, um hier die Tage zu verbringen und dem kalten Deutschland, ja vor allem England, den Rücken zu kehren und sich hier einzunisten? Wo sind die Familien, die Jungen und Mittelalten, die sich noch gerne vom guten alten Meer erholen lassen statt von einer Safari durch den Dschungel Kambodschas inklusive organisierter Nahtoderfahrung?
Für Erfahrungen, die sich in die Seele brennen, braucht man ohnehin keine Nahtoderfahrung. Die besten durften wir bisher erleben, wenn sämtliche Faktoren an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zusammentrafen und am Ende etwas ganz anders ergaben als die Summe ihrer Teile, es entstand gar eine Art perfekt konstruiertes Schicksal. Man muss dann nur noch die Magie dieses Augenblick erkennen, die Gelegenheit bei Schopf packen und spontan zusagen, aufspringen und seiner Bestimmung folgen, wie in diesem Fall auf einen Grat im Hinterland von Tárbena, von dem uns in erster Linie allerdings abgeraten worden war (manchmal braucht das Schicksal einen Navi). Eigentlich wollten wir nur 3 Stunden wandern und hatten irgendwo geparkt, als uns in diesem Augenblick und mitten im Nirgendwo eine Gruppe von Menschen entgegenkam, ansprach und sich als Geländekartierer, sowas wie Wegemanager, entpuppte: Wollt ihr klettern? Wollt ihr wandern? Wie lange? Wie schwer? Am Ende hatte der Anführer “genau das Richtige” für uns, wobei uns unsere Neugier recht bald vom vorgeschlagenen Weg abbrachte und über ein unwegsames Geröllfeld auf einen Grat trieb.
Waren wir zu zweit gewesen, hätten wir möglicherweise den Rückzug angetreten und uns bei diesem Manöver wehgetan. Aber dank der gelassenen Gemütsverfassung von Rupi, der zwar keinen Orientierungssinn hat, dafür aber viel Zuversicht, landeten wir nach einer etwas unkonventionellen Kletterpartie schließlich auf einem Grat, an dem wir das Ende der Welt oder einen 200 m tiefen Abhang vermuteten. Stattdessen fanden wir heraus, dass dort die Welt ganz bezaubernd sogar weitergeht und uns möglicherweise über einen Rundweg zurück ans Auto führt.
Nahtoderfahrungen am Strand
Nun, wir haben Erfahrungsberichte von Einheimischen gehört und Bilder gesehen, im Internet, die sie bestätigen: Die Horden kommen im Sommer, also am Ende dann doch für die Nahtoderfahrung am Meer: Wer es am längsten bei 45 Grad in der prallen Sonne aushält, bekommt am Tag darauf den letzten freien Sonnenschirm für sich allein. Es hieß sogar, man könne den Strand von Benidorm kilometerweit entlanglaufen, ohne ein einziges mal in der Sonne zu stehen, so dicht sind die Schirme gespannt. Derzeit deutet jedoch nichts auf das Spektakel hin, man kann durch die vielen Menschenlücken Sand und Meer sehen, kann sich sogar einen Platz aussuchen! Das eigentliche Spektakel spielt sich im Rücken ab, der zubetonierte Küstenabschnitt gibt den Blick frei auf das faszinierend hässliche, fast schon grotesk anmutende Stadtbild von Benidorm, das ein bisschen an Dallas erinnert:
Ich denke an Alexis, die sich in einer schlecht belüfteten Suite die Nase pudert und die nächste Grausamkeit ausheckt. Inzwischen ist Dallas schon längst zum 3. Mal abgesetzt, stattdessen gibt es in England die Serie “Benidorm”, die von der Parodie dieses Schauspiels lebt. Vielleicht sind deshalb so viele Rentner hier, weil sie sich durch diesen miefigen Glamour der 80er wieder fühlen wie früher. Und mittendrin hocken zwei junge Hippies aus Freiburg, die offenbar so aus der Zeit gefallen sind, dass sie nicht viel machen müssen, um aufzufallen. Sie machen dennoch Akrobatik, heute nennt man es Yoga, und verursachen den Alten ein steifes Genick, ein schlechtes Gewissen oder provozieren Auffahrunfälle der zahlreichen wie ebenfalls grotesk erscheinenden Elektro-Rollatoren mit integriertem Hochsitz und als Tandemgefährt (kein Scherz).
Adventstürchen
In Situationen wie diesen, wenn man sich mal wieder deplatziert fühlt, kommen mir immer die wahren Erkenntnisse fürs Leben. Eines davon ist: die 80er waren auch für mich toll. Eine andere ist: Damals bin ich mit den 4 Jahreszeiten aufgewachsen, und die waren trotz Klimawandel bisher immer zuverlässig genug, um sich nicht nur daran zu gewöhnen, sondern um sie auch zu vermissen, wenn man sie nicht erleben darf. So wie jetzt. Inzwischen ist es nämlich nicht mehr nur die Weihnachtsauslage im spanischen Supermarkt, die einen bei 20 Grad im Schatten etwas melancholisch macht, sondern auch die Tatsache, dass Pirmin neulich dank des Basteltalents seiner bezaubernden Mutter das erste Adventstürchen seines Lebens öffnen durfte. Was mich aber endgültig zum Weinen gebracht hat, war eine Geschichte, die mir meine liebe Freundin Katharina aus ihrem Adventskalender per WhatsApp zugeschickt hat.
Weil die Sonne so lebhaft scheint, wir in der Regel gut miteinander auskommen und in Spanien sind hatten wir fast vergessen, dass wir Weihnachten dieses Jahr ohne unsere Lieben verbringen werden. Und als ob diese Erkenntnis nicht schon reichen würde, kommt noch hinzu, dass sich meine Sehnsucht, Familie, Freunde und Vertraute wiederzusehen, gerade in dieser Einöde, in der neue Freundschaften Grenzen haben und sich bald nach Hause verabschieden, Bahn bricht wie zu keinem Zeitpunkt zuvor. Da hilft auch nicht, bei Aldi einzukaufen, wo der Schokoweihnachtsmann neben der Orangenpress-Maschine wohnt, oder beim deutschen Zahnarzt im Behandlungszimmer mit Blick aufs Meer auf Chrissie zu warten, bei dem sich abermals ne Füllung verabschiedet hat.
Home is where the heart is
Das ist Jammern auf hohem Niveau, könnte man sagen. Oder auch Erkenntnis Nr. 3, für die man keine Deplatzierung braucht, sondern eine lange Auszeit von dem, was sich zumindest für mich als essenzieller Teil der Lebensfreude, als Antrieb und wichtiger Bestandteil der eigenen Identität erweist, nämlich alles, was für das Gefühl, zu Hause zu sein, dazugehört, und das sind vor allem Freunde, Familie - und eine Beschäftigung. Für Chrissie reichen zum Wohlgefühl bisher Yoga, Bratkartoffeln und ein vernünftiger Fels in angenehmem Klima (derzeit im Schatten!), das wissen wir jetzt. Ich wiederum kriege langsam schlechte Laune, die sich anders anfühlt als die, wenn man unterzuckert ist. Der Mangel an Abwechslung, den ich durch eine sich ausbreitende Lethargie nicht durch Eigeninitiative kompensieren kann, macht mir zunehmend zu schaffen: Mir fehlen vor allem meine Freunde und Familie, dann Gossip, Hirnschmalz, im Supermarkt Deutsch sprechen, Nagellack und weibliche, völlig unfunktionelle Kleidung - und nicht zuletzt merke ich, dass ich eine sinnvolle Beschäftigung brauche, und sei es “nur” Hausarbeit. Das Schreiben ist derzeit ein bedeutendes Kulturgut, überhaupt jede Form von Kultur wird eingesaugt, wie der Besuch in Murcia, einer wirklich bezaubernden Stadt mit arabischem Flair, in der man jedoch länger bleiben muss, um irgendwo in einem kleinen spanischen Lokal Flamenco zu sehen. Ich habe die Hoffnung in meinem naiven Verstand aber noch nicht aufgegeben. Dafür haben wir die Kathedrale gesehen und in einem traditionsträchtigen Lokal die sagenhafte lokale Tapas-Küche genossen, sind im städtischen Schwimmbad schwimmen gewesen und haben am Abend ein lokales Fußballspiel gesehen - alles in allem eigentlich genug Material, um sich ein wenig als Teil eines Ganzen und etwas mehr spanisch zu fühlen.
Das Haus in Tárbena haben wir vorläufig verlassen und haben ein paar Tage in einem Naturpark unweit vom Meer verbracht, den wohl die meisten als schön bezeichnen würden. Es gibt dort einen schönen Kletterfelsen und eine schöne Umgebung, aber alles nichts gegen das herzerwärmende Entertainmentprogramm aus England: Rado und Sam haben unter Einfluss von Rotwein und teils slawischen Humors wie Dialekts das Zwerchfell gesprengt und schlechte Gedanken zumindest für die Dauer der Vorstellung vertreiben. Die beiden sind weitergezogen und wir wieder allein, hin und wieder am Meer bei Alicante, wo es angenehm und sauber ist, vor allem lässt es sich dort gut übernachten, auch wenn man permanent Gefahr lauft, von der Polizei verscheucht zu werden wegen irgendwelchen von der EU geförderten Renaturierungsmaßnahmen am Strand.
Und hier offenbart sich ein weiteres Manko, das mich derzeit mehr plagt als Chrissie, nämlich das Gefühl, nirgends dazuzugehören und allenfalls geduldet zu werden, wo man ist, es sei denn, man lässt Geld liegen. So ist unsere Welt nunmal, aber wenigstens ist die spanische Exekutive höflich und taktvoll unter dem Deckmantel der Vertreibung. Das Herz ist gerade jetzt zur Weihnachtszeit und über ein habes Jahr von daheim weg vielleicht besonders sensibel und hungrig nach Gemeinschaft und vor allem Zugehörigkeit. Aber auch hierfür hat das Schicksal was hinterm Adventstürchen versteckt, nämlich ein spontanes Lautsprecher-Telefonat mit Nikel, Nela, Mira, Micha und Rebekka, die sich für den seelischen Aufbau so richtig ins Zeug gelegt haben, mit weisen Ratschlagen, Plätzchen und Glühwein und Burgern.
Zum Glück ist Chrissie geduldig und erträgt mein Lamento: jedesmal wenn sich eine bestehende Gemeinschaft auflöst, löse ich mich auch auf - die Rosenheimer sind erst seit vorgestern weg, und ob wir unsere britischen Freunde wiedersehen, steht offen.
Chrissie bleibt hingegen stets am Stück erhalten und scheint derzeit in sich zu ruhen - seine Fingerverletzung ist ausgeheilt und der Mann am vorläufigen Peak seiner Kletterperformance.
Ich versuche nun, mir ein Beispiel an ihm zu nehmen und mit einer Extraportion Bratkartoffeln an meinen Aufgaben zu wachsen, denn Klettern allein motiviert mich trotz Peak-Performance nicht mehr allzusehr.
Dafür aber muss ich mir erstmal wieder Aufgaben suchen und mich immer wieder an die weisen Worte meiner lieben Freunde erinnern, denn viel Zeit ist nicht mehr übrig und die ist verloren, wenn man in der Landschaft dahängt wie eine Kugel am Baum. Dann doch lieber wie ein Brett am Fels.
Außerdem:
Ihr seht, ich klammere mich an jeden Strohhalm.
Als erste Übung hilft schon allein die Erinnerung an das überwältigende letzte halbe Jahr und die Erkenntnis Nr 4: Nichts erzwingen, die Dinge annehmen wie sie kommen, sie im Guten nutzen und im Schlechten daraus lernen - sollte mich jemand mal danach fragen, was ich auf dieser Reise gelernt habe, dann ist es…sicher kein Spanisch. Dafür aber noch die Erkenntnis Nr. 5:
Man will immer das, was man nicht had
in diesem Sinn
Feliz Navidad.
Anna & Chrissie
Hallo ihr Weltschmerz- Weltreisende, um mit dem Ende zu beginnen: Man will immer das, was man nicht hat. Im Umkehrschluss also: Was man hat, das will man nicht mehr? Der Kreislauf der ewigen Unzufriedenheit, heureka!! Da könnt ihr auch jeden Tag einen Drachen steigen lassen. Der Drachenverbrauch wird euch dann auch nicht....usw. usw.
Die Fotos sind wieder erste Klasse. Und dem Kleinen ist der Weihnachtsmann am Spanischen Strand nicht geheuer. Recht hat er ;-) Man nennt das Instinkt!
In Spanien scheint es noch immmer keine Vögel zu geben? Da, wo sich die nordeuropäischen Rentner - Zugvögel niederlassen, sollten doch auch einige andere zu sehen sein. Spätestens aber so im März machen die sich aber wieder auf ihren Rückweg nach Norden.…